Die SPD kann universelle und integrative Antworten auf die großen Fragen der Zeit geben. Dafür sollte sie allerdings nicht versuchen, es möglichst vielen Zielgruppen recht zu machen, sondern klarer sagen, für welche Werte sie steht.
Sebastian Jobelius ° Konstantin Vössing
Lange Zeit war die SPD erfolgreich, weil sie mit einem politischen Programm verschiedene soziale Gruppen zu Wählerkoalitionen zusammengeführt hat. So konnte die Partei für gesellschaftlichen Fortschritt und soziale Sicherheit sorgen. Allerdings ist dieses Modell der Sozialkompromisspartei längst an seine Grenzen gestoßen. Das hat zwei Gründe.
Individuelle Werte sind wichtiger als materielle Lebenslagen
Erstens identifizieren sich Menschen politisch nicht mehr über ihre Zugehörigkeit zu abstrakten sozialen Gruppen, egal ob sie als Milieus, Klassen, Schichten, Religionsgemeinschaften oder Berufsgruppen definiert werden. Individuelle Werte und Einstellungen haben heute einen viel größeren Einfluss auf das Wahlverhalten als sozialstrukturelle Faktoren und materielle Lebenslagen.
In der offenen und pluralen Gesellschaft erfolgt die politische Zuordnung also nicht mehr über soziale Gruppen, sondern über gemeinsame Werte. Bürgerinnen und Bürger tendieren zu den Parteien, mit deren grundlegenden und praktizierten Werten sie am meisten übereinstimmen. Um erkennbar und verlässlich zu sein, müssen Parteien formulieren was sie wollen, und nicht, welchen Zielgruppen sie es recht machen wollen.
Es fehlen europäische Instrumente des sozialen Ausgleichs
Zweitens haben sich die nationalen politischen Instrumente als unzureichend erwiesen, um im Sinne des Sozialkompromisses Antworten auf die globalisierungsbedingten Herausforderungen zu finden. Die europäischen Instrumente des sozialen Ausgleich sind aber nicht ausreichend entwickelt. Anspruch und Wirklichkeit sozialdemokratischer Politik fallen daher weit auseinander.
Zu lange war der Gedanke des Sozialkompromisses auch von dem Leitbild eines männlichen Familienernährers ohne Migrationshintergrund geprägt. Gesellschaftliche Fragen wie Gleichstellung oder die Gestaltung der Einwanderungsgesellschaft wurden erst sehr spät berücksichtigt und sind mit der Logik des Sozialkompromisses nicht zu beantworten.
Sie SPD kann Antworten auf die großen Fragen unserer Zeit geben
Freiheit, soziale Gerechtigkeit und solidarisches Handeln waren schon immer die Grundwerte der Sozialdemokratie. Die SPD ist nun gefordert, ihre Werte in einer grundsätzlich neuen Herangehensweise zur handlungsleitenden Maxime zu machen und das Sozialkompromiss-Modell hinter sich zu lassen.
Dieser Schritt eröffnet neue Perspektiven für die Zukunftsfähigkeit unserer Partei und unseres politischen Programms. Wir sind als Sozialdemokrat*innen mit unseren Werten und unserer Kompetenz in der Lage, universelle und integrative Antworten auf die großen Fragen unserer Zeit zu geben. Dazu sind fünf Elemente unserer politischen Arbeit von besonderer Bedeutung:
Wir wollen zuhören, und dabei auch neue Wege ausprobieren (und bewährte Wege wiederbeleben), um zu wissen, welche Themen und Fragestellungen die Menschen bewegen.
Wir wollen werte-orientierte und unvoreingenommene politische Debatten innerhalb der SPD über die richtigen sozialdemokratischen Antworten auf die Fragen, die die Menschen bewegen.
Wir wollen in Abgrenzung zum populistischen Politikansatz Offenheit bei der Wahl der Maßnahmen und Mittel, um sozialdemokratische Werte in konkrete Politik umzusetzen. Dazu brauchen wir die Einbeziehung von Fakten und überprüfbaren Erkenntnissen sowie den regelmäßigen Austausch mit Praktikern, Experten, Betroffenen und Wissenschaft.
Wir wollen eine werte-orientierte politische Kommunikation, die verdeutlicht, warum eine von der SPD verfolgte Maßnahme zu einer freiheitlichen, gerechten, solidarischen und überzeugenden Lösung führt.
Wir wollen diese Form der politischen Arbeit durch strategische Sorgfalt bei der Auswahl der Themen in Wahlkämpfen ergänzen. Politische Forderungen in Wahlkämpfen müssen das eigene Lager einen und darüber hinaus geeignet sein, unentschlossene Bürgerinnen und Bürger von der Richtigkeit eines solidarischen und gerechten Lösungsweges zu überzeugen.
Dieser Politikstil ist dynamisch und anpassungsfähig, aber auch verlässlich und berechenbar. In vielen Unternehmen und Organisationen ist werte-orientiertes Führen und Arbeiten daher bereits ein wichtiger Bestandteil der Organisationskultur.
Gesundheit ist eine Frage der Solidarität
Die Corona-Krise zeigt, welch hohen Wert der Schutz der Gesundheit in unserer Gesellschaft einnimmt. Dabei offenbart sich eine Dominanz sozialdemokratischer Werte wie in kaum einem anderen Politikfeld: Das Recht auf bestmöglichen Schutz der Gesundheit soll nach dem Verständnis der meisten Bürgerinnen und Bürger allen Menschen gleichermaßen zu Gute kommen, unabhängig von der Herkunft, beruflichem Status oder den persönlichen finanziellen Mitteln.
Mit konkreter Politik für ein universelles, leistungsfähiges und öffentlich finanziertes Gesundheitswesen kann die SPD in einem hoch relevanten Politikfeld nicht nur die ohnehin von einer solidarischen Politik überzeugten Wählerinnen und Wähler hinter sich vereinen, sondern auch viele weitere Wählerinnen und Wähler ansprechen.
Für eine auskömmliche Finanzierung öffentlicher Güter
Auch an anderen Beispielen lässt sich zeigen, dass die öffentlichen Güter und Dienstleistungen zum zentralen Feld der politischen Auseinandersetzung werden, wenn es um die Verwirklichung sozialdemokratischer Werte geht. Das Spektrum der relevanten Themen reicht dabei vom Zugang zu bezahlbarem Wohnraum, Energie, Mobilität und digitaler Infrastruktur über die beste Bildung unabhängig vom Geldbeutel bis zur Garantie von Sicherheit und Rechtsstaatlichkeit und zum Schutz vor wirtschaftlichen Schocks und Pandemien.
Die Steuer- und Haushaltspolitik sollte daher auf allen Ebenen an der auskömmlichen Finanzierung öffentlicher Güter und Dienstleistungen ausgerichtet werden. Dies eröffnet auch für die kommunale und die europäische Debatte neue Perspektiven. Ein politischer und kommunikativer Fokus auf die Qualität, Quantität und Offenheit öffentlicher Leistungen vergrößert ganz erheblich die Akzeptanz und Popularität solidarischer Politik. Viele Beispiele aus Ländern mit einem gut funktionierenden öffentlichen Sektor zeigen dies.
Eine solidarische Politik kann man nicht beschließen
Die Qualität, Quantität und Offenheit der öffentlichen Güter und Dienstleistungen entscheidet über den Charakter unserer Gesellschaft. Die Kernidee des Neoliberalismus ist die Anwendung von privatwirtschaftlichen Markt- und Wettbewerbsprinzipien auf alle Bereiche des privaten und öffentlichen Lebens – mit den bekannten Folgen und Unzulänglichkeiten, inklusive der Aushöhlung öffentlicher Leistungsfähigkeit. Defizitäre öffentliche Güter und Dienstleistungen sind dann ein Treibstoff für rassistische, nationalistische und populistische Politik. Sozialdemokratische Politik, die sich an Werten statt Zielgruppen orientiert, wird sich auf diesen Feldern als die bessere Alternative beweisen.
Eine werteorientierte, faktenbasierte, unvoreingenommene, partizipative und auf die Mobilisierung von solidarischen Mehrheiten ausgerichtete Politik kann man nicht auf einem Parteitag beschließen. Sie muss sich entwickeln. Ob sie zu einem handlungsleitenden Prinzip der SPD wird, ist auch ein Gradmesser für die Fähigkeit der SPD, auf veränderte gesellschaftliche und ökonomische Bedingungen zu reagieren.
Der Beitrag basiert auf der Analyse “SPD im Wandel: Klassenpartei, Kompromisspartei, Wertepartei”